Psychotische Störungen der Orientierungsfähigkeit können die Zuerkennung des Merkzeichens G rechtfertigen, wenn der Behinderte an Orientierungsstörungen und Panikreaktionen leidet und es hierdurch zu unvorhersehbaren und gefährlichen Reaktionen im öffentlichen Verkehr kommen kann.
In diesem Fall kann auch die Zuerkennung des Merkzeichens B in Betracht kommen.


Landessozialgericht Berlin-Brandenburg 13. Senat
27.11.2015
L 13 SB 82/15
Juris



Tatbestand

Die Beteiligten streiten über das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung der Merkzeichens "G" (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) und „B“ (Berechtigung für eine ständige Begleitung).

2012 war bei der Klägerin durch den R-Kreis ein Grad der Behinderung von 30 festgestellt worden. Auf den Verschlimmerungsantrag der Klägerin vom 19. November 2012 stellte der Beklagte bei ihr mit Bescheid vom 29. Mai 2013 einen Grad der Behinderung von 60 fest, lehnte aber die Zuerkennung des Merkzeichens B ab. Hierbei ging er von den Funktionsbeeinträchtigungen psychische Behinderung, Depression und außergewöhnliche Schmerzreaktion aus. Den Widerspruch der Klägerin wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 13. Juli 2013 mit der Begründung zurück, dass die gesundheitlichen Voraussetzungen der Merkzeichen G und B bei der Klägerin nicht vorlägen.

Mit der Klage bei dem Sozialgericht Berlin hat die Klägerin die Zuerkennung der versagten Merkzeichen begehrt.

Neben Befundberichten hat das Sozialgericht das Gutachten des Arztes für Neurologie und Psychiatrie R vom 6. Oktober 2014 eingeholt, der im Hinblick auf die Einschränkung des Gehvermögens infolge psychotischer Störungen der Orientierungsfähigkeit sowie die Notwendigkeit einer Begleitperson bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel bei der Klägerin die Voraussetzungen der Merkzeichen G und B bejaht hat. Auch in der ergänzenden Stellungnahme vom 21. Januar 2015 ist der Sachverständige bei dieser Einschätzung geblieben.

Dem Gutachten folgend hat das Sozialgericht den Beklagten mit Gerichtsbescheid vom 16. März 2015 verpflichtet, bei der Klägerin die gesundheitlichen Voraussetzungen der Merkzeichen G und B festzustellen.

Hiergegen richtet sich die Berufung des Beklagten, mit der er u.a. ausführt: Die von dem Sachverständigen festgestellten Panikattacken rechtfertigten nicht die Zuerkennung der begehrten Merkzeichen. Zu berücksichtigen seien Leiden, die zu Störungen der Orientierungslosigkeit führten, und solche Anfälle, die mit Bewusstseinsverlust und Sturzgefahr verbunden seien, nicht aber Antriebsstörungen aufgrund psychischer Leiden.

Der Beklagte beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 16. März 2015 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie ist der Ansicht, dass die sozialgerichtliche Entscheidung zutreffend ist.

Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.


Entscheidungsgründe

Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, da die Beteiligten hiermit einverstanden sind (§ 153 Abs. 1 in Verbindung mit § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).

Die zulässige Berufung des Beklagten ist unbegründet.

1. Die Klägerin hat Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens „G“.

Gemäß § 145 Abs. 1 Satz 1 SGB IX haben schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, Anspruch auf unentgeltliche Beförderung. Alternativ können sie nach § 3a Abs. 2 Kraftfahrzeugsteuergesetz eine Ermäßigung der Kraftfahrzeugsteuer um 50 v. H. beanspruchen. Über das Vorliegen der damit angesprochenen gesundheitlichen Merkmale treffen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen (§ 69 Abs. 1 und 4 SGB IX).

Nach § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahr für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden.

Bei der Prüfung der Frage, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, kommt es nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse des Einzelfalles an, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein – d.h. altersunabhängig von nichtbehinderten Menschen – noch zu Fuß zurückgelegt werden. Als ortsübliche Wegstrecke in diesem Sinne gilt eine Strecke von etwa zwei Kilometern, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird (Bundessozialgericht -BSG-, Urteil vom 10. Dezember 1987, 9a RVs 11/87, BSGE 62, 273 = SozR 3870 § 60 Nr. 2). Nach den gutachterlichen Feststellungen ist dem Kläger diese Wegstrecke nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten möglich.

Allerdings ist es für die Zuerkennung des Merkzeichens „G“ nicht ausreichend, dass diese Wegstrecke nicht in dem genannten Zeitraum bewältigt werden kann. Das Gesetz fordert in §§ 145 Abs. 1 Satz 1, 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX darüber hinaus, dass Ursache der beeinträchtigten Bewegungsfähigkeit eine Behinderung des schwerbehinderten Menschen sein und diese Behinderung dessen Gehvermögen einschränken muss (sog. „doppelte Kausalität“, siehe Bundessozialgericht -BSG-, Urteil vom 24. April 2008 – B 9/9a SB 7/06 R –, SozR 4-3250 § 146 Nr. 1). Hierzu hatte das Bundessozialgericht die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) herangezogen, die in Nr. 30 Abs. 3 bis 5 Regelfälle beschrieben, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" als erfüllt anzusehen waren und die bei der Beurteilung einer dort nicht erwähnten Behinderung als Vergleichsmaßstab dienen konnten (so BSG, Urteil vom 13. August 1997, 9 RVs 1/96, SozR 3-3870 § 60 Nr. 2). Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts gaben die AHP an, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen mussten, bevor angenommen werden konnte, dass ein Behinderter infolge einer Einschränkung des Gehvermögens "in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist". Damit wurde dem Umstand Rechnung getragen, dass das menschliche Gehvermögen keine statische Messgröße ist, sondern von verschiedenen Faktoren geprägt und variiert wird. Darunter sind neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also Körperbau und etwaige Behinderungen, vor allem der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens (ökonomische Beanspruchung der Muskulatur, Gehtempo und Rhythmus) sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation, zu nennen. Von diesen Faktoren filterten die AHP all jene heraus, die nach dem Gesetz außer Betracht zu bleiben haben, weil sie die Bewegungsfähigkeit des schwerbehinderten Menschen im Straßenverkehr nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung seines Gehvermögens, sondern möglicherweise aus anderen Gründen erheblich beeinträchtigen (vgl. BSG, Urteil vom 13. August 1997, a.a.O.).

Diese Grundsätze gelten auch auf der Grundlage der in der Anlage zu der am 1. Januar 2009 in Kraft getretenen Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“ weiter, und zwar unabhängig davon, ob – wie überwiegend vertreten wird (so Dau, jurisPR-SozR 4/2009, Anm. 4; Oppermann, in: Hauck/Noftz, GK SGB, Loseblattwerk Stand: 2013, Rn. 36a zu § 69 SGB IX; LSG Baden-Württemberg, seit Urteil vom 23. Juli 2010 – L 8 SB 3119/08 – in ständiger Rechtsprechung, zuletzt Urteil vom 24. Januar 2014 – L 8 SB 2723/13 –; LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Dezember 2009 – L 10 SB 39/09 –; offen gelassen von: LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Oktober 2013 – L 10 SB 154/12 –; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 19. Dezember 2011 – L 13 SB 12/08 –) – die Vorschriften über die Voraussetzungen des Merkzeichens „G“ in Teil D Nr. 1d bis 1f der Anlage zu § 2 VersMedV mangels gesetzlicher Ermächtigungsgrundlage nichtig sind. Denn die in den AHP aufgestellten Kriterien wurden über Jahre hinweg sowohl von der Verwaltung als auch von den Gerichten in ständiger Übung angewandt, weshalb die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" als gewohnheitsrechtlich anerkannt zu betrachten sind (so auch LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Dezember 2009 – L 10 SB 39/09 –). Hinzu kommt, dass mit ihrer Verrechtlichung durch die VersMedV keine Änderung des Rechtszustandes beabsichtigt war, da sie materiell die Regelungen zum Merkzeichen „G“ unverändert aus den AHP übernommen hat.

Gemessen an diesen Grundsätzen ist der Klägerin die ortsübliche Wegstrecke „infolge einer Einschränkung des Gehvermögens“ (§ 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX) nicht möglich. Denn nach den überzeugenden Darlegungen des Sachverständigen Dr. R ist die Klägerin infolge von psychotischen Störungen der Orientierungsfähigkeit, die sich beim Verlassen ihrer Wohnung durch Veränderungen ihrer Umgebung im Rahmen einer psychotischen Erwartungsangst entwickelt, in ihrer Gehfähigkeit gestört. Infolge der Orientierungsstörungen und der Panikreaktionen der Klägerin kann es zu nicht vorhersehbaren und gefährlichen Reaktionen unter Missachtung der tatsächlich vorliegenden Gefährdungen kommen, und zwar plötzliche Fluchttendenzen mit unbedachtem Überqueren der Fahrbahn und die unzureichende Beachtung der Gefahren der Wegstrecke.

Den Einwänden des Beklagten ist unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (zuletzt: Urteil vom 11. August 2015 – B 9 SB 1/14 R –) nicht zu folgen. Denn der umfassende Behindertenbegriff im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX gebietet im Lichte sowohl des verfassungsrechtlichen als auch des unmittelbar anwendbaren UN-konventionsrechtlichen Diskriminierungsverbots (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG; Art. 5 Abs. 2 UN-BRK, hierzu BSGE 110, 194 = SozR 4-1100 Art 3 Nr. 69 Rn. 31) die Einbeziehung aller körperlichen, geistigen und seelischen Beeinträchtigungen. Den nicht erwähnten Behinderungen sind die Regelbeispiele als Vergleichsmaßstab zur Seite zu stellen. Anspruch auf Nachteilsausgleich G hat deshalb auch ein schwerbehinderter Mensch, der nach Prüfung des einzelnen Falles aufgrund anderer Erkrankungen als den in Teil D Nr. 1 lit. d bis f der Anlage zu § 2 VersMedV genannten Regelfällen dem beispielhaft aufgeführten Personenkreis mit gleich schweren Auswirkungen auf die Gehfunktion gleichzustellen ist (vgl. BSG, Urteil vom 13.8.1997 – 9 RVs 1/96 – SozR 3-3870 § 60 Nr. 2). Dies gilt auch für psychosomatische oder psychische Behinderungen und Krankheitsbilder (so BSG, Urteil vom 11. August 2015 – B 9 SB 1/14 R –).

2. Die Klägerin hat auch Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens „B“.

Nach § 146 Abs. 2 Satz 1 SGB IX sind zur Mitnahme einer Begleitperson schwerbehinderte Menschen berechtigt, die bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln infolge ihrer Behinderung regelmäßig auf Hilfe angewiesen sind. Dies ist bei der Klägerin der Fall: Nach den Feststellungen des Sachverständigen R benötigt sie infolge ihrer psychotischen Störung bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel, insbesondere beim Ein- und Aussteigen und auch während der Fahrt, eine Begleitperson, die nicht nur beruhigend und entängstigend auf sie einwirkt, sondern auch das in der psychotischen Angstsymptomatik liegende Orientierungsdefizit kompensieren kann.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Verfahrens.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.



Versorungsmedizinische Grundsätze
in der Fassung der 5. Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung